Eine Weihnachtsgeschichte

Die Reservix Weihnachtsgeschichte

Weihnachten ist das beste Fest von allen, finde ich. Keine Zeit im Jahr ist so entspannt wie diese drei Tage. Mein Programm: Ausschlafen, irgendwann aufstehen, noch ein paar Geschenke einpacken, sich abends den Bauch mit leckerem Raclette vollschlagen, die Geschenke auspacken und dann bis zum zweiten Feiertag auf dem Sofa herumliegen und Plätzchen futtern. Aber in diesem Jahr wurde Weihnachten auf den Kopf gestellt. Und der Morgen des Heiligen Abends begann für mich früher als geplant. Viel früher.
„Anna! Komm schon! Wenn du jetzt nicht aufstehst, dann siehst du das Christkind nicht!“ Mila stand neben meinem Bett, ihr Pummeleinhorn unter den Arm geklemmt. Ihre blonden Haare standen in alle Richtungen ab und sie trug noch den Schlafanzug mit den kleinen Sternen darauf.
„Das Christkind gibt es doch gar nicht“, murrte ich unwillig. „Die Geschenke kaufen Mama und Papa für uns.“
„Kannst du das beweisen?“ Meine kleine Schwester reckte vorwitzig das Kinn. „Du hast es schließlich noch nie gesehen, oder?“
Müde setzte ich mich auf. „Nur weil man etwas noch nie gesehen hat, bedeutet das nicht, dass es existiert. Das ist eine total verdrehte Logik.“
„Logik, Schnogik, ist mir egal“, sagte Mila. „Ich gehe jetzt runter und gucke, ob es da ist.“
„Mach das“, gähnte ich. Wenn sie Ruhe gab, konnte ich vielleicht noch ein bisschen schlafen.
Ich konnte nicht. Kaum war Mila aus der Tür getanzt, polterte es im Stockwerk unter mir und ich hörte das Klappern von Geschirr.
„Anna?“, rief meine Mutter die Treppe hinauf. „Kannst du bitte den Hund rauslassen? Dein Vater holt Getränke und ich muss noch die Gesch…“ Sie brach ab, wahrscheinlich war meine Schwester gerade bei ihr angekommen. „Das Geschirr ausräumen!“, rief meine Mutter.
Seufzend schwang ich die Beine aus dem Bett. „Ja, ich komme schon.“ Jetzt war ich ohnehin wach.

Als ich nach einem Besuch im Bad ins Esszimmer kam, hatte Mila die Suche nach dem Christkind offenbar aufgegeben. Sie saß am Frühstückstisch vor ihrem Müsli, ihr Einhorn neben sich auf dem Stuhl. Es hatte eine Christbaumkugel um den dicken Hals gebunden. „Mama?“, rief sie. „Wer kommt heute Abend alles zum Fest?“
„Das weißt du doch, Schätzchen.“ Mama kam aus der Küche, ein Geschirrtuch in den Händen. „Oma und Opa, dein Onkel Jan, meine Freundin Sonja und die Rita.“ Das war Milas Patentante.
Meine Schwester zählte die Stühle an unserem Tisch, einer Monstrosität von irgendeinem Flohmarkt. Unser Vater liebte Trödelmärkte und kaufte gern Möbel, die er dann in der Garage mehr oder weniger fachmännisch verschönerte. „Aber wir haben doch Platz für zwölf Leute.“ Seit Mila zählen konnte, war sie nicht weniger anstrengend geworden.
„Das stimmt“, sagte Mama. „Allerdings wüsste ich nicht, wen wir noch einladen sollten.“ Damit verschwand sie wieder in der Küche.
Ich sah es hinter Milas kleiner Stirn arbeiten. Sie schob das Müsli von links nach rechts, dann schnappte sie sich ihr Einhorn und lief die Treppe hinauf. Ich ließ den Hund in den Garten, dann nahm ich mir einen Toast und gönnte mir auf Papas Tablet eine Runde von diesem Spiel, bei dem man Weihnachtsmänner den Kamin hinunterrutschen lassen konnte.
Meine Schwester werkelte bis zum Nachmittag in ihrem Zimmer, während wir anderen den Baum und das Wohnzimmer schmückten, die Geschenke darunter verteilten, die Krippe aufbauten und „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ anschauten. Nicht einmal, als Mama die Keksdose für das Kaffeetrinken hervorholte, tauchte Mila auf. „Ich habe zu tun!“, rief sie immer dann, wenn man nach ihr sah. Also ließen wir sie in Ruhe.

Erst, als es langsam dämmerte, kam Mila wieder herunter. In der Hand hielt sie drei große Bögen Papier, die einmal in der Mitte gefaltet und kunstvoll bemalt waren. Damit marschierte sie schnurstracks in den Flur. Neugierig folgte ich ihr.
„Was machst du?“, fragte ich.
„Ich gehe uns noch ein paar Gäste besorgen“, sagte sie, zog die Pudelmütze über ihre Haare und nahm ihren Parka vom Haken.
„Wo willst du die denn besorgen?“, fragte ich skeptisch.
„Draußen.“ Sie zog den Reißverschluss an ihren Winterstiefeln zu. „Kommst du mit?“
„Ganz sicher nicht“, lachte ich. „Draußen sind Minusgrade und in zwei Stunden ist Bescherung. Da will ich doch nicht auf der Straße herumrennen. Und du auch nicht.“
„Doch, genau das will ich.“ Sie nickte mit Nachdruck und packte die Klinke der Haustür. Also blieb mir nur eins.
„Papa! Mila will noch ein paar Gäste besorgen!“ Vielleicht konnte er meine Schwester von diesem Unsinn abhalten.
„Ja, in Ordnung“, rief mein Vater aus der Küche und ich wusste, dass er nicht richtig zugehört hatte. „Aber lass sie bitte nicht allein gehen, okay?“

Das hatte ich davon. Statt vor dem Ofen zu liegen und zu raten, was in den Geschenken war, stapfte ich fünf Minuten später in dicken Klamotten durch den Schneematsch in unserer Straße. Es war eiskalt und ich hatte den Schal vor das Gesicht gezogen, aber Mila war nicht zu bremsen. Sie nahm meine Hand und zog mich zu dem Kiosk am Ende der Straße. Der gehörte einer unfreundlichen Frau, die um die Weihnachtszeit immer in den Schwarzwald zu ihrer Tochter fuhr und irgendeinen armen Tropf dazu brachte, den Laden für einen Hungerlohn zu schmeißen. Das hatte Mama zumindest gesagt. Dieses Jahr war es ein junger Mann, der erst vor kurzem in unser Land gekommen war. Er stand mit einer schwarzen Mütze frierend hinter dem kleinen Fenster. Mila sah zu ihm hoch.
„Hallo. Ich bin Mila und das ist meine Schwester Anna.“
Ich grüßte mit einem kurzen Heben meiner Hand. Das musste genügen.
„Ich kenne euch“, sagte der junge Mann mit seinem weichen Akzent. „Ihr seid doch die Kinder aus dem blauen Haus am Ende der Straße.“
Ich hätte gern widersprochen, denn mich mit vierzehn Jahren noch als Kind bezeichnen zu lassen, gefiel mir nicht. Aber da hatte Mila längst weitergeredet.
„… weißt du, wir haben noch drei freie Plätze an unserem Tisch. Wenn du möchtest, kannst du bei uns feiern. Es gibt doch sicher nicht viele Leute, die heute noch eine Zeitschrift kaufen wollen, oder?“ Mila überreichte ihm feierlich ihre selbstgebastelte Einladung. Glitzer rieselte in den schmutziggrauen Schnee zu ihren Füßen. „Um sieben geht es los. Es gibt Schokolade und Plätzchen und mein Papa kocht die Kartoffeln für das Raclette. Er kann wirklich gut Kartoffeln kochen.“
Der junge Mann schien etwas überfordert, aber dann zeigte sich ein Leuchten auf seinem Gesicht. „Und ihr seid sicher, dass eure Eltern das erlauben?“ Er sah mich an.
Ich hätte die Frage gern verneint, aber Mila und er strahlten so, dass ich es nicht übers Herz brachte. Also nickte ich. „Klar. Die finden das super.“
„Dann komme ich gerne.“ Er nickte.

Wir verabschiedeten uns von ihm und Mila steuerte ein Haus an, das so schmal war, dass es wirkte, als hätte man es nachträglich zwischen die anderen Gebäude gequetscht. Nur im Dachgeschoss brannte Licht. Meine Schwester stieg die Stufen hinauf und drückte auf die oberste Klingel. Es dauerte nicht lange, bis es summte. Drei Treppen später landeten wir vor einer Tür in einem niedrigen Flur. Im Rahmen stand eine zierliche Frau mit einem Baby auf dem Arm. Hinter ihr in der Wohnung standen ein abgescherbeltes Sofa und ein wackeliger Tisch mit einem Stuhl. Papa hatte erzählt, dass die Frau hier allein wohnte, nur sie und das Baby.
„Sammelt ihr für einen guten Zweck?“, fragte sie. „Ich habe leider kaum Geld und-“
„Nein, so ist das nicht“, unterbrach Mila direkt. „Wir wollen dich einladen.“ Sie überreichte der Frau eine ihrer Einladungen. Diesmal rieselte der Glitzer auf den abgetretenen Holzboden. „Wir haben noch zwei freie Plätze an unserem Tisch. Wenn du willst, kannst du bei uns feiern. Du und das Baby.“
Die Frau stammelte etwas, aber dann lächelte sie. „Seid ihr si-“
„Ja, sind wir“, sagte Mila schnell. „Um sieben geht es los.“
Die Mutter wollte erst nicht so recht glauben, dass wir es ernst meinten, aber dann sagte sie doch zu. Wir polterten das Treppenhaus herunter und waren bald wieder auf der Straße.

Ich sah meine Schwester an. „Wohin gehen wir jetzt?“ Langsam fand ich Gefallen an Milas Aktion. Was war schon ein Gammelnachmittag auf der Couch, wenn man Menschen eine Freude machen konnte?
„Zurück zu uns. Ich will noch zu dem alten Motzer von nebenan.“ Mila hüpfte auf den Bordstein und dann wieder herunter.
„Bist du sicher? Der geht Weihnachten doch immer früh ins Bett und beschwert sich dann, wenn alle anderen noch feiern und Lärm machen.“
„Ja, aber doch nur, weil er ganz allein ist. Würdest du Weihnachten allein feiern wollen?“
„Nein“, gab ich zu. Das war wirklich eine furchtbare Vorstellung. „Aber ich weiß nicht, ob er uns nicht einfach davonjagen wird.“
Mila ließ sich trotzdem nicht abhalten. Wir klingelten und als der alte Mann zur Tür kam, hatte er, wie erwartet, keine freundlichen Worte für uns.
„Was wollt ihr?“, raunzte er und ich wich einen Schritt zurück. „Ich kaufe kein Zeitschriftenabo.“
„Ich habe auch keins dabei“, sagte Mila fröhlich. „Aber eine Einladung. Wir haben noch einen freien Platz an unserem Tisch. Wenn du willst, kannst du Weihnachten bei uns feiern. Es gibt Raclette und Plätzchen und Opa bringt Mirabellenschnaps mit. Ich weiß nicht, was das ist, aber Erwachsene scheinen es zu mögen.“ Sie gab ihm den letzten gefalteten Bogen Papier und wieder rieselte der Glitzer – diesmal auf die Pantoffeln des Alten.
Er studierte die Einladung, dann wurde sein Gesicht weicher und ein vorsichtiges Lächeln stahl sich in seine Mundwinkel. „Denkt ihr wirklich, dass… Ich kann doch nicht einfach…“
„Doch, du kannst“, sagte Mila beharrlich.
„Es wird sicher nett“, half ich ihr. „Außerdem sollte niemand Weihnachten allein feiern, denken Sie nicht?“
„Da hast du recht“, nickte er traurig. „Seit meine Frau tot ist, ist es ein einsames Fest geworden.“
„Aber nicht diesmal.“ Mila zeigte auf die Einladung „Um sieben geht es los. Sei pünktlich.“
„Das bin ich immer. Vielen Dank.“ Er lächelte freundlich, das erste Mal, seit ich ihn kannte.
Wir verabschiedeten uns und gingen zurück nach Hause. Dort fragte niemand, wo wir gewesen waren – stattdessen wurden wir gleich für die letzten Vorbereitungen eingespannt. Der Tisch wurde gedeckt, alle Lichterketten eingeschaltet und die Flammen der Kerzen im Raum spiegelte sich in den roten Kugeln an unserem Baum.
Schließlich wurde es sieben Uhr. Erst kamen die Gäste, von denen unsere Eltern wussten, und es gab ein großes Hallo, viele Umarmungen und einige „Bist du groß geworden“. Kurz darauf erschienen der junge Mann aus dem Kiosk, die Mutter mit ihrem Baby und der alte Mann von gegenüber. Alle hatten sie sich schick gemacht und sogar Geschenke mitgebracht – ein paar mit Schleifenband umwickelte Zeitschriften, selbstgebackenen Früchtekuchen und eine Flasche Wein. Mama und Papa waren kurz verdutzt, genau wie Oma und Opa, Onkel Jan, Sonja und Rita. Aber als Mila es ihnen erklärte, strahlten sie schnell genauso wie meine Schwester.

Wir setzten uns an den Tisch, der nun voll besetzt war. Es gab Raclette für alle, Plätzchen, Schokolade und Mirabellenschnaps für die Erwachsenen. Der Mann vom Kiosk erzählte aus seiner Heimat, Mama wiegte das Baby und der alte Mann von nebenan berichtete, wie Weihnachten in seiner Kindheit gewesen war. Wir lachten viel, packten Geschenke aus und aßen, bis wirklich nichts mehr hineinpasste. Irgendwann holte ich aus der Küche noch ein paar Plätzchen. Als ich zurückkam, blieb ich in der Tür stehen, weil es so ein schönes Bild war – diese lebendige und fröhliche Tafel.
Und als ich sie da alle so sitzen sah, mit ihren leuchtenden Augen und den roten Wangen, wurde mir klar, dass Mila recht gehabt hatte: Das Christkind gab es doch. Vielleicht hatte es kein weißes Kleidchen an, sondern einen Schlafanzug mit Sternen – und vielleicht trug es ein Pummeleinhorn unter dem Arm. Aber das Christkind war keine Erfindung. Sonst hätte es uns nicht das schönste Weihnachtsfest aller Zeiten beschert.

Reservix wünscht allen Lesern des Ticketmagazins wundervolle Weihnachten!

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Lena

Seit 2015 bin ich Teil des Reservix-Teams. Wenn ich nicht für das Ticketmagazin schreibe, findet man mich am Grill, auf dem Pferd oder mit der Nase im Duden - nur selten alles gleichzeitig.

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